Großadmiral
Dönitz hat gelogen
Von Heinrich Schwendemann
»Das
vordringliche Anliegen der Kriegsmarine
«
Nach dem Krieg erweckte der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Großadmiral
Karl Dönitz (1891 bis 1980), gern den Eindruck, dass ihm persönlich
zwei Millionen Menschen ihr Leben verdanken: "Die Rettung der Menschen
aus den ostdeutschen Provinzen war vordringliches Anliegen im Frühjahr
1945." Träfe dies tatsächlich zu, dann hätte die Marine
seit Januar 1945 diesem Ziel die gesamte Ostseekriegführung unterordnen
müssen. Das Kriegstagebuch der Seekriegsleitung zeigt aber, dass der Großadmiral
log. Denn er verschwieg eine folgenschwere Entscheidung, für die auch er
die Verantwortung trug.
Am 22. Januar hatte der "Führer" nämlich Dönitz' Vorschlag zugestimmt, die knappen Kohlereserven der Marine allein für militärische Aufgaben zu reservieren, nicht jedoch für den "Abtransport von Flüchtlingen". Ziel war es, alles dafür zu tun, dass die eingekesselten Truppen weiterkämpfen konnten. Dazu gehörte auch die "Kurlandarmee", die ehemalige Heeresgruppe Nord, die in Estland durchhalten sollte - und dies bis zum 8. Mai auch tat. Vor allem aber wollte der Großadmiral die Kontrolle über die östliche Ostsee als Operationsgebiet für die neuen U Boot Typen sichern. Dönitz, nicht minder endsieggewiss als sein "Führer", glaubte, mit dieser Wunderwaffe noch die Wende im Seekrieg gegen den Westen erzwingen zu können.
So war die gesamte Ostsee-Schiffahrt im Frühjahr 1945 militärischen Zielen untergeordnet: der Fortführung des Kampfes in den "Seebrückenköpfen" von Kurland, Ostpreußen und Danzig. Und Dönitz sorgte dafür, dass dieses Gemetzel und Massensterben weiterging. Unentwegt, bis Anfang Mai, schaffte die Kriegsmarine Munition und Nachschub in die schrumpfenden Kessel. Auf dem Rückweg nahmen die Schiffe über eine halbe Million Verwundete mit, schauerliches Indiz für die Brutalität der Kämpfe. Darüber hinaus transportierte die Marine bis in die letzten Wochen Waffen und Fahrzeuge, die im Stellungskrieg, dem "Kampf um jeden Meter", nicht mehr benötigt wurden, Richtung Westen ab. Und nur wenn Platz übrig war, nur dann, nahm man Flüchtlinge mit.
Auch zivile Schiffe blieben den wartenden Menschen zunehmend verwehrt. Noch im Januar hatte das Marineoberkommando Ostsee große Passagierdampfer wie die Hamburg, die Deutschland und die Pretoria eingesetzt, um Flüchtlinge zu evakuieren. Doch der Hamburger Gauleiter und Reichskommissar für die Seeschiffahrt, Karl Kaufmann, erklärte dazu knapp, "dass die Anforderung der Heeresgruppe Nord an Nachschub und Rückfuhrgut [...] meine Ostseetonnage weitgehend beansprucht".
Nur ein Teil der Evakuierten gelangte daher in die westlichen Ostseehäfen und ins deutsch besetzte Dänemark, die meisten aber schafften es gerade mal von Pillau nach Danzig und Gdingen (Gotenhafen). Von dort aus verlief der Weitertransport nur schleppend - die Wehrmacht hatte alle Eisenbahnkapazitäten für sich beschlagnahmt. Schließlich drängten sich Mitte Februar im Danziger Raum eine halbe Million Flüchtlinge. Schätzungen nach starben hier täglich bis zu 100 Menschen an Erschöpfung.
»Rücksichtslos
von der Straße gedrängt
«
In langen Trecks zieht man weiter, nach Pommern. Gauleiter Albert Forster lässt
anfangs 7000 Menschen pro Tag, später 15.000 bis 20.000 auf den Weg bringen.
Doch schon mit der nächsten Offensive, die am 24. Februar beginnt, überrollt
die Rote Armee Pommern. Als ihre Truppen am 4. März bei Köslin an
die Ostsee vorstoßen, ist auch der Großraum um Danzig zum Kessel
geworden.
Wer kann, flieht nun zurück. Ein Bericht aus dem Stab der 2. Armee spiegelt wider, wie sehr die verzweifelten Menschen Opfer der eigenen Führung geworden sind: "Im Brückenkopf Danzig befinden sich rund zwei Millionen Menschen. [...] Bedauerlicherweise wurde die Bevölkerung nach Westen und dann wieder nach Osten abtransportiert. Das Elend ist teilweise unglaublich, weil die Bevölkerung von der sich absetzenden Truppe im Einvernehmen mit der Gauleitung rücksichtslos von der Straße gedrängt werden muß und liegen bleibt."
Als es der Wehrmacht am 19./20. Februar gelingt, den Belagerungsring um Königsberg aufzubrechen, strömen wieder Abertausende aus der Stadt nach Pillau und in die umliegenden Fischerdörfer. Gauleiter Koch rechnet mit über 250.000 Flüchtlingen und fordert den sofortigen Abtransport von 20.000 Menschen pro Tag. Der zuständige Seetransportchef, Konteradmiral Konrad Engelhardt, teilt ihm jedoch mit, dass die Kohlekontingente nicht ausreichen. Weil wegen "Schiffraummangels" nur 5000 Menschen täglich Richtung Danzig und Gdingen gebracht werden können, "stauen" sich Anfang März in Pillau und dem angrenzenden Samland mindestens 135.000 Flüchtlinge. So kehrt ein Teil der Königsberger -- man befürchtet ein Massensterben -- lieber in ihre Stadt zurück.
»Alle
Möglichkeiten ausgeschöpft«
Am 23. März beginnt der Großangriff der Roten Armee auf Danzig. Viel
zu spät appelliert der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe Nord, Walter Weiss,
an Dönitz: "Schickt Schiffe, Ausrüstungen und Fahrzeuge!"
Der Großadmiral, der antwortet, dass "alle Möglichkeiten ausgeschöpft"
würden, zeigt am 30. März, dem Tag, an dem Danzig von der Roten Armee
niedergebrannt wird, einmal mehr, wie wenig ihn das Sdiicksal der Flüchtlinge
und Soldaten interessiert. Bei der Festlegung der knappen Kohlenvorräte
setzt er alle militärischen Transporte erneut an erste und zweite Stelle
der Dringlichkeit, erst an dritte Position die Evakuierung der Verwundeten und
Flüchtlinge. Schon wenige Tage später müssen deshalb die großen
Fahrgastschiffe als Flüchtlings und Verwundetentransporter wegen Brennstoffmangels
endgültig stillgelegt werden.
Nachdem die Rote Armee bis Ende
März nicht nur den Danziger, sondern auch den Heiligenbeiler Kessel erobert
hat, befinden sich in den letzten von der Wehrmacht gehaltenen Gebieten neben
Zehntausenden Verwundeten noch immer 400.000 Zivilisten, davon 150.000 in der
Weichselniederung und auf der vor der Danziger Bucht liegenden Halbinsel Hela
sowie 250.000 in Pillau, Königsberg und dem Samland. Erneut bittet Gauleiter
Koch um schnellstmögliche Evakuierung, und wieder versichert Dönitz,
dass das "Möglichste" getan werde.
Nichts geschieht. Am 6. April, als die Rote Armee zum Sturm auf Königsberg
antritt, wo sich noch immer über 70.000 Zivilisten aufhalten, legt man
die Verteilung der Schiffstransporte aus Ostpreußen fest: 40 Prozent Verwundete,
20 Prozent Zivilisten und 40 Prozent für militärische Zwecke - das
heißt: Nur ein Fünftel der Schiffskapazitäten ist für die
Flüchtlinge vorgesehen. Am 9. April, Königsberg hat kapituliert, wird
der Anteil der Zivilisten auf Kosten der Verwundeten von 20 auf 40 Prozent erhöht:
Noch immer bleiben 40 Prozent für den Abtransport von Waffen, Fahrzeugen
und anderem Gerät für den "Endkampf" im Reichsgebiet reserviert!
Mitte April ist das Samland besetzt; jetzt bleibt nur noch Pillau. Von dort aus werden seit Anfang April 20.000 Verwundete und einige Tausend Flüchtlinge nach Hela herrausgebracht. Doch als die Rote Armee auf das Hafenstädtchen verrückt, halten sich immer noch 85.000 Menschen hier auf. Wie viele von ihnen bei den Kämpfen in Pillau, das am 25. April fiel, letztlich umkamen, kann nicht mehr ermittelt werden.
Endlich
gibt Dönitz die Brennstoffreserven frei
Als Adolf Hitler am 30. April im Berliner Bunker Selbstmord begeht, drängen
sich auf Hela und in der Weichselniederung etwa eine Viertelmillion Flüchtlinge
und Soldaten. Unbeschreibliche Szenen spielen sich ab; die Menschen versuchen
diejenigen Schiffe zu stürmen, die noch Richtung Westen auslaufen. Jetzt
erst vollzieht Dönitz, in seiner Rundfunkrede am 1. Mai, eine taktische
Wendung. Unter der Parole, "Deutsche Menschen vor der Vernichtung durch
den Bolschewismus zu retten", fordert er die Fortführung des Kampfes
im Osten, um Bevölkerung und Soldaten vor der "Versklavung und Vernichtung"
zu bewahren. Und erst am 6. Mai, zwei Tage vor der Kapitulation, räumt
er der Rettung der Menschen erstmals höchsten Vorrang ein. Alle Schiffe
sollen nach Hela und Kurland geschickt werden. Endlich auch gibt er die Brennstoffreserven
der U Boote frei.
Bis zum 8. Mai werden dann noch 110.000 Soldaten, 6300 Verwundete, aber lediglich 5400 Flüchdinge über die Ostsee nach Westen verschifft. Am Tag der Kapitulation befinden sich in der Weichselniederung und auf Hela noch 150.000 Wchrmachtsoldaten und 50.000 Flüchtlinge. Auf der Frischen Nehrung stehen einige Tausend und in Kurland 180.000 Landser.
Vergleicht man diese Zahlen (an die 120.000 Menschen wurden binnen weniger Tage evakuiert) mit den Zahlen der zwischen dem 23. Januar und dem 1. Mai Geretteten, als von Königsberg, Pillau, Gdingen, Hela und den Häfen der Pommernküste über 80.000 Flüchtlinge, 355.000 Verwundete und 215.000 Soldaten abtransportiert wurden, so wird offensichtlich, was man versäumt hatte: Es wäre nämlich zweifellos möglich gewesen, sowohl die Bevölkerung als auch die Soldaten aus den Kesseln an der Ostsee vollständig zu retten.
Das große Retouchieren begann nach 1945. So rechneten die Militärs die Transportzahlen bis auf zwei Millionen hoch. Unterschlagen wurde dabet, dass diejenigen, die man im "Pendelverkehr" von Ostpreu8en in den Danziger Raum gebracht hatte insgesamt 500.000 Flüchtlinge, 154.000 Verwundete und 79.000 Soldaten , ja keineswegs im Westen angekommen, sondern zu einem erheblichen Teil von der Roten Armee im Danziger Raum oder in Pommern überrollt worden waren. Mitgezählt wurden gern auch die Seetransporte von kampffähigen Soldaten, fast 300.000 Mann, die ohnehin sofort wieder zurück an die Front mussten.
Die tatsächliche Bilanz sieht anders aus: Nur 800.000 bis 900.000 Flüchdinge sowie 350.000 Verwundete schafften es, über See den "rettenden Westen" zu erreichen. Drei bis vier Millionen Deutsche in Ostpreußen, Danzig und Pommem gerieten in den Herrschaftsbereich der Roten Armee. Viele von ihnen wurden in Lager gepfercht und fast alle bis Ende der vierziger Jahre aus der Heimat vertrieben.
Die 1945 Geretteten allerdings verdanken ihr Glück nicht der Marineführung, sondern mutigen Einzelnen, ob in Wehrmacht oder Parteiuniform, die oft genug gegen die Befehle handelten. Großdmiral Karl Dönitz aber, der noch 1970 behauptete, "wir taten, was wir in der damaligen Situation zur Rettung der deutschen Menschen nur tun konnten", wurde von Adolf Hitler mit Recht für seine bedingungslose Treue zum Nachfolger bestimmt. Er war der Mann, auf den der "Führer" in jeder Lage und zu jeder Zeit hatte bauen können.
Auszug aus einem
Artikel in der Wochenzeitung DIE ZEIT vom 13.Januar 2005 (S. 84)
Dr. Heinrich Schwendemann, lehrt Geschichte an der Universität Freiburg.
Weitere Literatur zum Thema: |